Wie ein steinernes Band windet sich die endlose Mauer durch die hügelige Landschaft im Norden Englands. Sie schlängelt sich durch das Grün der Wiesen und Felder, rankt sich um versprengte Baumgruppen und kleine Wäldchen, zwischen Teichen und Seen. Sie steigt auf schroffe Höhen, krümmt sich über felsige Kanten und Klippen aus Basaltpalisaden und fließt hinaus in die weite Ebene, die sich im blassen Abendlicht des fernen Horizonts verliert. Wir stehen staunend vor diesem maßlosen, gigantischen Bauwerk, das das Land und die Landschaft dominiert.
Der Hadrianswall ist heute ein beeindruckendes Weltkulturerbe, damals diente das römische Befestigungssystem zum Schutz des britannischen Limes. Reisende können den Überresten der Steinmauer folgen, sie verläuft nahe der Grenze zwischen England und Schottland. Warum man unbedingt dort stoppen sollte, kann Gastautor Heinz Bück berichten.
Die Reise beginnt
Auf unserer letzten Schottland-Tour waren wir auf den Hadrianswall gestoßen. Frontal, in Wallsend in North Tyneside, kurz vor Newcastle. Hier endet oder beginnt er, je nachdem woher man kommt und wohin man will. Aber die Zeit war uns damals zu knapp zum Verweilen. Die Fähre wartete und wir waren auf der Heimreise. Diesen Sommer jedoch hatten wir vorsätzlich mehr Zeit eingeräumt. Zwar nicht den gesamten Urlaub, was die Region locker hergibt. Aber ein paar entspannte Tage sollten es doch schon sein, auf unserer Rückfahrt von Wales hinüber nach Newcastle. Es wurde eine beeindruckende Zeitreise, aus dem ratlos brexitenden England ins untergegangene Imperium Romanum – und wieder zurück.
Hier liegt der Hadrianswall
Genau an der Wespentaille der Britischen Insel schlängelt sich der Wall quer durch Nordengland. Mitten durch die stille hügelige Landschaft der nördlichsten, traditionellen Grafschaften Northumberland und Cumbria. Wir hatten ihn als Einstieg für eine ganz eigene Erkundungstour gewählt, für eine antike Grenz-Erfahrung. Heute weiß ich, man kann den Hadrianswall prima entlang wandern, komplett von der Nordsee bis an die Irische See: über den Hadrian’s Wall Path sind es 84 beeindruckende Meilen. Das nächste Mal vielleicht. Es reizt mich durchaus und möglicherweise ist es sogar die beste Art, ihn zu erleben und zu begreifen. Doch diesmal sind wir mit dem Wohnmobil unterwegs.
Von Carlisle, dem westlichen Ende des Walls am Solway Firth, sind es nur 15 Kilometer zur schottischen Grenze. Hier geht es nordwärts in die Lowlands Richtung Glasgow, südwärts über den Lake District und Liverpool nach Snowdonia in Wales. Rund 120 Kilometer sind es hinüber zur Nordsee. Diese Querung Englands über Hadrian’s Wall ist wunderschön, sehr geschichtsträchtig und erlebnisreich.
Was ist zu sehen vom Hadrianswall?
„Wall“ klingt im Deutschen lautlich und vor allem begrifflich anders als im Englischen, wo es schlicht „Mauer“ bedeutet: nach Aufschütten und Verschanzen, nach Erde, nach Verteidigung. Wallförmig sehen bei uns Damm und Deiche aus. Der römische Limes in Germanien wurde auf diese Art errichtet und mit Palisaden, Toren und Türmen aus Holzstämmen befestigt, davor ein Graben. Ebenso Hadrian’s Wall – vor allem im Westen.
Doch in seinem Mittel- und Ostteil wurde er aus behauendem Stein erbaut: ein klobiges Mauerwerk, ein akkurates Machwerk und ein ausgeklügeltes Machtwerk antiker Herrschaft zur Teilung Britanniens. Bis zu viereinhalb Meter hoch waren die Mauern. Bis zu zweieinhalb, ja drei Meter dick. Ununterbrochen und undurchdringbar: an 320 Knotenpunkten waren Türme auf Sichtweite errichtet. Und an 80 Stellen waren befestigte Kasernen angelegt: Meilenkastelle, die genau eine römische Meile auseinander lagen, gut 1.500 Meter. Mauern dieser Art wecken widerstreitende Emotionen, ja Widerstand, einst wie heute und überall auf der Welt.
Gestern und heute
Hadrian’s Wall war der strategisch vorgelagerte Teil des Limes Britannicus. Kaiser Hadrian hatte ihn beim Besuch der Provinz Britannia, der nördlichsten Annexion des Römischen Reiches, persönlich von seinen Truppen gefordert. In sechs Jahren – von 122 bis 128 nach Christus – wurde er erbaut. Als Teil jenes komplexen Grenzbefestigungssystems, das die Römer seit Cäsars erster Invasion 55 vor Christus ausgebaut hatten: gegen Übergriffe der vielen nach Norden verdrängten Volksstämme in Schottland, der Pikten, wie die Römer sie schlechthin nannten.
Gut 400 Jahre dauerte die Besatzung. Die Clans hatten sich in die Highlands zurückgezogen. Dazwischen war ein Streifen uneinnehmbares Niemandsland: Noch heute verläuft die moderne schottische Grenze etwas weiter nördlich. Dass sie nun wieder eine richtige Grenze, ja sogar eine EU-Außengrenze werden könnte, falls die aufsässigen Schotten das ungeliebte Großbritannien der EU zuliebe verlassen sollten, ist uns angesichts dieses Bauwerks schier unbegreiflich. Immerhin 62 Prozent von ihnen waren für den Verbleib in der EU, die angrenzende englische Grafschaft Northumberland indes mit 54 % dagegen, ebenso die Wahlkreise in Cumbria: rund 60 Prozent stimmte für den Brexit.
Heute ist Hadrian’s Wall ein Weltkulturerbe der UNESCO, am eindrucksvollsten sein mittlerer Abschnitt. Teile der Mauer sind hier besonders gut erhalten, noch mannshoch und prima restauriert. Andere sind abgetragen. Sie dienten den Einheimischen als Steinbruch.
Ausstellungen und Grabungsstätten
Wir kommen nur langsam voran, stoppen und wandern durch die weite Landschaft an der Mauer entlang und mit ihr die Hügel hinauf und hinab. Von den römischen Forts und Siedlungen sind meist nur die Fundamente erhalten. Allein 17 Kastelle lagen in der Festungskette des Hinterlandes. Fantastische Ausstellungen und Grabungsstätten reihen sich auf unserem Weg gen Westen, vor allem von der Mitte des Walls aus: Chesters Roman Fort oder das Roman Army Museum. Öffentliche Busrouten führen von Ost nach West und retour zu allen markanten Punkten und den sehenswerten Stätten der antiken europäischen Großmacht.
Wir besuchen Kastell Vindolanda und die laufende Ausgrabung dort. Sie legt einen wahren Fundus der römischen Administration frei: Schrifttum und Artefakte belegen die guten Verbindungen des Militärlagers bis nach Rom. Seine Besatzung war für Sicherungs- und Überwachungsaufgaben im Hinterland zuständig. Sehenswert ist auch Birdoswald: die Fundamente des einstigen Kastells und der gut erhaltene steinerne Wall vergegenwärtigen die wahre Größe und den Aufwand des imperialen Machtapparats.
Grenzzaun des alten Empires
Die Museen, Ausstellungen und Besucherzentren sind hoch informativ, mit großem Erkenntnisgewinn für unsere so unruhige Neuzeit: Nach heutiger Einschätzung der Wissenschaft diente der Wall weniger der Abwehr einer großen keltischen Invasion. Er wäre ihr nicht gewachsen gewesen. Ziel war vielmehr ein Schutz gegen kleinere Überfälle. Historiker und Archäologen glauben inzwischen sogar, dass er eher den lokalen Grenzverkehr kontrollieren sollte, etwa um Einfuhrzölle zu ermöglichen.
Und sie liefern uns eine erstaunliche Feststellung nach: Hadrian’s Wall sollte die unkontrollierte Einwanderung schottischer und irischer Stämme in die Provinz Britannia Inferior verhindern… Einst und jetzt verschwimmen, ein Riss, ein Zeitsprung, Vergegenwärtigung: Ist es wirklich überholt dieses antike Denken? Oder ist überholtes Denken modern? Gehört forscher Grenzziehung bald schon die Zukunft? Für imperiale Maßnahmen gegen Migration? Wir sind sehr aktuell unterwegs am mächtigen Grenzzaun des alten Empires.
Die Route: nicht zu verfehlen. Von der DFDS Fähre in Newcastle immer an der Wall entlang. Im Groben ist die A69 die wichtigste Orientierung. Sie folgt dem Verlauf des River Tyne. Ihre Abzweige führen zum Hadrianswall. Tipp: In einem der Besucherzentren unbedingt eine Karte der Wege und Stätten erbitten. Tourist Information Center sind in Carlisle und Newcastle. Die Landschaft: entzückend. Kleine Dörfer liegen am Wegesrand – mit urigen Pubs und lokalen Märkten. Und große Wälder und National Parks kaum abseits der Route. Am Ende der Lake District. Aber das ist eine andere Geschichte und eine eigene Reise wert.
Gastautor Heinz Bück schreibt wunderbare Reiseberichte aus Schottland, Irland und Großbritannien unter: www.the-celtic-ways.de. Das Autorenteam hinter „The Celtic Ways“, Sigrid Schusser und Heinz Bück, berichtetet in Print und Web für Freizeit und Outdoor-Magazine. Die beiden Reisejournalisten zieht es in ihrem mobilen Büro, einem orangen Reisemobil, an die westlichen Ränder Europas. Ihre spannenden Geschichten und aktuellen Informationen aus den „keltischen Lebenswelten“ inspirieren zu eigenen Touren in diese herrlichen Regionen.