Alpen, Nordcap? Nö! Motorradreiseprofi Jürgen Grieschat kennt nur eine Topdestination, wenn’s um einmalige Motorradreisen geht: das Baltikum. Der ehemalige Geographielehrer hat sich mit seinen geführten Motorradreisen durch Europas Osten inzwischen einen Namen gemacht. Mehrmals im Jahr zieht es ihn mit seinen Reisegruppen auf die endlosen Straßen Litauens, Lettlands und Estlands – oder gar weiter bis nach Russland und Sibirien.
Wir haben uns mit Jürgen „Juri“ Grieschat zu einem kleinen Plausch über die Destination Baltikum und seine vielen Reiseerlebnisse getroffen. Der Profi in Sachen Motorradreisen ist das Gesicht hinter dem Reiseveranstalter MOTTOUREN aus Hamburg und spätestens seit ihm die erste Durchquerung Sibiriens mit einem BMW-Motorrad gelang, eine feste Größe wenn es um Motorradtouren nach Osteuropa geht.
Hallo Jürgen, wie lang ist denn deine letzte Reise ins Baltikum her und wie hat’s dir gefallen? – Meine letzte Reise ins Baltikum war Ende September 2015 und ich werde dann noch einmal Ende Oktober dort unterwegs sein.
Seit über 20 Jahren bis du mit dem Motorrad auf Reisen durchs Baltikum unterwegs. Was fasziniert dich so am Reiseziel Baltikum, dass du immer wieder gerne dorthin zurückkehrst? – Es hat ganz viel mit Ruhe zu tun. Reisen im Baltikum bedeutet Entspannung, zumindest für mich. Unterwegs zu sein in Regionen, die vieles bewahren, aber in denen sich auch vieles sehr rasch verändert, das ist, was mich fasziniert, was mich neugierig macht. Ich habe das im Titel eines meiner Vorträge über das Baltikum so zusammengefasst: Drei Länder zwischen Wolken, Wildnis und Wandel.
Man sagt, die drei baltischen Staaten seien sehr unterschiedlich. Wie nimmst du die regionalen Unterschiede vor Ort war? – Zum einen unterscheiden sie sich natürlich und in erster Linie durch die Sprachen, die völlig unterschiedlich sind. Aber selbst wenn ich von allen dreien nur wenige Wörter kann, ist das kein Problem, denn vor allem die jungen Leute sprechen hervorragend Englisch. Bei den Älteren treffe ich auch immer wieder auf Menschen, die Deutsch sprechen, u.a. weil es in der Sowjetzeit üblich war, ab der 4. Klasse Deutsch als erste Fremdsprache zu lernen. In den Ostteilen aller drei Länder und in Teilen der Hauptstädte treffe ich auch immer auf Menschen, mit denen ich leicht über die russische Sprache kommunizieren kann. Ganz deutlich unterscheiden sich natürlich die jeweiligen Hauptstädte vom Rest der Länder.
Anekdote aus dem Motorrad-Reisetagebuch
Kannst du eine Anekdote aus deinen baltischen „Reisetagebüchern“ zum Besten geben? Und was war das schönste Erlebnis, das du auf deinen Reisen je hattest?
Da fahre ich in einem abgelegenen Teil der estnischen Insel Hiiumaa und glaube meinen Augen nicht zu trauen: An der Piste steht ein Verkehrsschild mit der Angabe „@Internet“, einzigartig in Europa. Es zeigt, wo sich der nächste Hotspot befindet. Das ist gesetzlich garantiert – Estland bietet seinen Bürgern kostenlosen Zugang zum Internet. Das Land verfügt praktisch über ein flächendeckendes, stabiles und schnelles WLAN-Netz. Das geht auch ohne eigenen Rechner, denn in Ämtern, Bibliotheken, Cafés, Tankstellen, Bussen, Bahnen und Dorfläden kann jeder ins Netz gehen – das macht mich für zu Hause ein wenig neidisch.
Eine weitere schöne Erinnerung: Irgendwo im Osten Litauens bin ich mit meinem Freund Andreas abseits des Teers unterwegs, Sonnabendnachmittag, es staubt, ist heiß, wir fahren einfach nach Kompass Richtung Osten. Wir wollen mal sehen, wo wir rauskommen. Nach einem Knick endet der Feldweg auf einem Bauernhof. Vor uns, seitlich der Straße, ordentlich und übersichtlich am Straßenrand geparkt, eine Unmenge an Traktoren und Privat-Kfz… und alle geschmückt. Hier muss irgendetwas los sein, das wir uns genauer ansehen wollen. Nein, etwas, das wir uns ansehen müssen! Auch wir stellen unsere – nicht geschmückten – Motorräder ebenfalls an den Straßenrand, um in Erfahrung zu bringen, was dort auf dem Bauernhof stattfindet.
Mit großem Hallo werden wir empfangen, als wenn wir uns bereits seit langer Zeit kennen. Nachvollziehen können wir es im ersten Moment nicht, denn nicht ein Einziger ist uns bekannt. Innerhalb kürzester Zeit sitzen wir an einem üppig gedeckten Tisch, zwischen festlich gekleideten Männern, Frauen und Kindern… und alle scheinen sich darüber zu freuen, dass wir uns zu der Feiergesellschaft hinzugesellt haben. Unglaublich, aber wir haben natürlich weder angemessene Kleidung am Körper, noch haben wir auch nur irgendeine Form eines Geschenks bei uns, das wir dem Hochzeitspaar? Jubelpaar? Geburtstagskind? überreichen könnten.
Vorsichtig versuche ich mich bei meiner Nachbarin zu erkundigen, welche Art von Feier hier gerade stattfindet. Freudig erzählt sie, dass die minderjährige Tochter endlich das 18. Lebensjahr erreicht hat und somit volljährig geworden ist. Mit einem verschmitzten Lächeln sagt sie mir – natürlich so leise wie irgend möglich – dass sie sich jetzt mal langsam aber sicher nach einem geeigneten Mann umsehen müssen! Problematisch wird es für uns, die wir ja mit dem Motorrad unterwegs sind, als wir mit einem „Schnäpschen“ auf das Geburtstagskind anstoßen sollen. Wir nippen nur an einem wohl gefüllten Glas und bitten unsere jeweiligen Nachbarn, den Rest auszutrinken. Für die kein Problem!
„Aber essen dürft ihr ja wohl?“ Gesättigt und freudig gestimmt machen wir uns auf die Fortführung unserer Tour. Wenn es irgendwo in Europa Gastfreundschaft gibt, dann hier – mitten auf dem Lande, am Rande Litauens gelegen, aus unserer Sicht am Rande Europas – aber unglaublich schön!
Viele Biker planen ihre Touren traditionell eher durch die Alpen, nach Norwegen oder Schottland – mit welchen Argumenten überzeugt man jeden Biker von einer Reise ins Baltikum? – Jemanden, der Berge, Kurven, Spitzkehren und Pässe als Hauptziel seiner Motorradreisen vor sich sieht, den werde ich schwerlich in einen oder alle drei baltischen Staaten locken können, wo der Große Eierberg in Estland nur knapp schwindelige 320 m erreicht. Aber wer neugierig auf Entdeckungen ist, der sollte dorthin fahren. Am besten bald, solange es diesen Osten noch so gibt, denn die Veränderungen sind gewaltig.
Gibt es einen „Geheimtipp“ den du interessierten Bikern für eine Reise durch das Baltikum mit auf den Weg geben möchtest? – Es gibt eigentlich so viele, in allen drei Hauptstädten mindestens je einen. Am liebsten bin ich in Vilnius in Užupis, dieser Künstlerkolonie, die über eine Flagge, einen Präsidenten und eine eigene Verfassung verfügt, in der u.a. steht, dass jeder Mensch das Recht hat, zu sterben, aber dass das keine Pflicht ist. Und sie haben Frank Zappa ein Denkmal gesetzt!
Der wichtigste Ort im Baltikum für mich liegt gut 25 Kilometer nördlich von Vilnius und kennzeichnet den geografischen Mittelpunkt Europas! Dort sind auf einem Findling Koordinaten eingraviert die den Mittelpunkt Europas kennzeichnen: 25° 19′ östlicher Länge und 54° 54′ nördlicher Breite als Schnittpunkt der Achsen Nordkap-Kreta und Ural-Gibraltar. An diesem Stein wurde mir klar, dass wir gar nicht, wie oft gesehen, der Mittelpunkt Europas sind, sondern, zumindest geografisch gesehen, eher Westeuropa. Gut, wenn man mal wieder „geerdet“ wird.
Vielen Dank für das spannende Gespräch und viele spannende Erlebnisse weiterhin wünschen wir dir!
Haben die spannenden Geschichten von Jürgen Grieschat euer Interesse geweckt? Dann haben wir einen Tipp für euch: In den Herbst- und Wintermonaten gibt es viele Gelegenheiten Jürgen Grieschat bei Messen oder Audiovisionsvorträgen „live“ zu erleben.
Termine u.a. auf http://www.mottouren.de/infobox/veranstaltungen.html oder bei Facebook: https://www.facebook.com/Mottouren